Mein Vater, 87 Jahre alt, verwitwet, lebt allein, leicht gehbehindert, braucht eine Krücke, hatte Operationen (Stent, Hüfte), hat eine übergrosse Milz und nimmt Aspirin.
Er erzählt mir am Telefon, dass er seit ein paar Stunden 37,5 Grad Celsius Temperatur hat. Auf meine Frage: «Brauchst du Hilfe?» antwortet er: «Nein, ich nehme die Grippetablette und gehe früh schlafen. Das hilft immer.»
Am nächsten Morgen (Tag 2) kommt die Spitex. Die Frauen nötigen ihn, zum Arzt zu gehen. Am Nachmittag (Tag 2) hat er bereits kein Fieber mehr, 36,8 Grad, hustet ein bisschen (er hustet immer) und er geht zum Arzt. Der Arzt: «Sie haben eine Erkältung. Wir machen den PCR-Test.»
Am nächsten Morgen (Tag 3) das Telefon des Callcenters: «Sie sind Corona-positiv, 10 Tage Quarantäne!».
Sein besorgter Hausarzt ruft schon am Tag 2 die Spitex an und verbietet den Frauen für 10 Tage, zu ihm zu kommen. Es kommt weder die tägliche Spitex noch die wöchentliche Haushalthilfe vorbei.
Wäre er tatsächlich krank, läge er im Bett. Er käme nicht zum Kühlschrank und kaum zur Toilette, er würde an seinem Husten wohl ersticken müssen. Er wäre dem Tode geweiht, weil sich keiner um ihn kümmert, er ist alt, er ist Covid-krank, sich selbst überlassen für die nächsten 10 Tage. Unfreiwillig, noch einsamer und isolierter als sonst…
Er sieht nun (Tag 3), dass bei der Esszimmerleuchte eine von vier Glühbirnen nicht brennt. Er nimmt den Stuhl, klettert auf den Stuhl und fällt samt Stuhl zu Boden! Er liegt am Boden, kann sich nicht bewegen, und drückt den Notfallknopf am Arm.
Das angerufene Familienmitglied (A) kommt nach 15 Minuten, bleibt im Türrahmen der Wohnungstüre stehen (Quarantäne-Vorschrift), sieht den umgefallenen Stuhl, den alten Mann am Boden, macht sich Sorgen und ruft die Ambulanz.
Nach ca. einer Stunde kommen die Rettungskräfte, eingepackt nach Vorschrift, sie stellen den alten Mann auf die Beine, messen Blutdruck und Fieber. Alles in bester Ordnung.
Im Treppenhaus steht noch immer das Familienmitglied (A), sie ist begleitet von zwei Polizisten.
Da die Retter feststellen, dass es meinem Vater «gut» geht, gehen alle wieder und lassen den alten Mann allein!
Er ist nun seinem Schicksal überlassen, hat sehr starke Rückenschmerzen, starke Bauchschmerzen, Prellungen an den Armen und an den Beinen und hat Husten, was die Schmerzen in Bauch und Rücken vom Sturz verstärken.
Am Nachmittag von Tag 3, dem Tag des Sturzes, erkundige ich mich per Telefon nach dem Befinden. Ich erkenne im Klang der Stimme die Verzweiflung. Er klagt über starke Schmerzen, die Einsamkeit, die Ohnmacht, die Leere und die Verbitterung über die Geschehnisse des heutigen Tages.
Willkommen in der Medizin des Jahres 2020.
Ich bin somit, anstelle meiner eigenen Verpflichtungen, täglich eine Stunde hin- und abends wieder zurückgefahren. Ich habe seine zahlreichen Wunden gepflegt, ihm auf die Beine geholfen, Essen gekocht, etc.
Ich habe mich strafbar gemacht, indem ich die Quarantänevorschrift missachtet habe. Ich habe mich unwohl gefühlt. NICHT wegen einer Krankheit, sondern wegen der vielen Vorschriften, die ich allesamt missachtet habe…