Mit Urteil vom 18.3.2021 hat das Bundesgericht (2C_658/2018) die ärztliche Schweigepflicht neu definiert und mit einschneidenden Lockerungen versehen.
Zweimal hat die Schweizerische Ärztezeitung vertreten durch den Rechtsdienstmitarbeiter Mlaw Ciro Papini sich zu diesem neuen Bundesgerichtsurteil geäussert:
- „Wie reagiere ich auf Auskunftsbegehren der Aufsichtsbehörde?“ Schweizerische Ärztezeitung, 16.6.2021
- „Das Bundesgericht präzisiert die Rechtssprechung zum Arztgeheimnis“; Schweizerische Ärztezeitung, 19.1.2022
Zweimal werden Ärztinnen und Ärzte darin darüber unterrichtet, dass sie zukünftig ein proaktives Vorgehen der Aufsichtsbehörde, verbunden mit Akteneinsicht in nicht definierte Patientenakten ohne Bewilligung der Patientin oder des Patienten zu dulden haben (die Aufsichtsbehörde könnte „im Rahmen einer gesetzlich vorgeschriebenen und regelmässigen Kontrollfunktion“ eine Überprüfung der Dienstleistungsqualität alle drei bis vier Jahre vornehmen) und, dass unter gewissen Voraussetzungen eine Meldefrist zur Preisgabe sensibler Informationen besteht.
Schicksalsergeben ohne jeden Widerspruch wurden relevante Aspekte dieses Gerichtsurteils von der FMH, vertreten durch Ciro Papini wiedergegeben.
Nach der Publikation des ersten Beitrags in der Schweizerischen Ärztezeitung im Sommer letzten Jahres bin ich, Fr. Dr. Catja Wyler van Laak, mit dem Autor des Beitrags in der Schweizerischen Ärztezeitung, Ciro Papini, in schriftlichen und telefonischen Kontakt getreten und habe Bedenken angemeldet, dass eine derartige Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht problematisch ist und schwerwiegende Folgen für das Arzt-Patient-Verhältnis nach sich ziehen kann.
„Einer der entscheidenden Punkte zur Begründung und Aufrechterhaltung dieses Vertrauens in ein funktionierendes Gesundheitssystem ist der Schutz der ärztlichen Schweigepflicht.“
Hr. Papini versprach, die Bedenken innerhalb der FMH einzubringen; ohne sichtbare Wirkung.
Ich wandte mich in der Folge noch einmal schriftlich diesbezüglich an den Rechtsdienst der FMH. Eine Antwort wurde mir zugesichert. Diese ist bis heute nicht eingetroffen.
Stattdessen kam es zu einem zweiten Beitrag, der ebenfalls durch ein Duldungsverhalten und durch ein m.E. schlichtes Rechtverständnis charakterisiert ist.
Wollen wir die Erosion der Grundlage unserer Tätigkeit, eine Grundlage, die vertrauensbasiertes ärztliches Handeln erst möglich macht, wirklich einfach so hinnehmen?
Ich wandte mich an den Verein Ethik und Medizin Schweiz (VEMS). Gemeinsam baten wir Prof. Dr. iur. Ueli Kieser, Professor an der Universität St. Gallen für Sozialversicherungsrecht und Gesundheitsrecht sowie an der Universität Bern für Sozialversicherungsrecht, ein Rechtsgutachten über obengenanntes Bundesgerichtsurteil zu erstellen.
Prof. Kieser gehört in den genannten Rechtsgebieten zu den führenden Wissenschaftlern der Schweiz. In seinem Gutachten vom 28. Januar 2022 kommt Hr. Prof. Kieser zu folgenden Schlüssen:
- „Die im kantonalen Gesetz vorgesehene proaktive periodische Kontrolle darf nicht beinhalten, dass ohne bereits bestehende konkrete Anhaltspunkte eines verpönten Verhaltens einzig mit Blick auf die Qualitätssicherung Eingriffe in das Privat- und Familienleben vorgenommen werden. Die Würdigung des Bundesgerichts überzeugt nicht.“ (Gutachten S. 13)
- „Das Bundesgericht hat bestimmte Regelungen des Kantons Tessin als nicht verfassungsmässig betrachtet und die entsprechenden Bestimmungen aufgehoben. Es kommt, bezogen auf die proaktive Aufsicht hinzu, dass es mit Blick auf Art. 33 ATSG, auf die krankenversicherungsrechtlichen Qualitätsbestimmungen sowie auf Art. 6 ZGB überzeugender ist, ebenfalls eine fehlende Verfassungsmässigkeit anzunehmen.“ … (Gutachten S. 13/14)
Unter Berücksichtigung des Strafgesetzbuchartikels 321 (Verletzung des Berufsgeheimnisses) macht Prof. Kieser im Gutachten darauf aufmerksam,
- „dass im Rahmen der Vertragsfreiheit im Behandlungsvertrag ein Schutz der entsprechenden Daten vereinbart werden kann. Insoweit darf das in Art. 321 StGB erfasste Berufsgeheimnis nur unter besonderen Voraussetzungen eingeschränkt werden.“ (Gutachtens S. 13 ).
Das sind deutliche Worte. Sie besagen, dass es guten Grund gibt anzunehmen, dass das zur Diskussion stehende Bundesgerichtsurteil nicht zutreffende Feststellungen enthält, die Gesetzes- und Verfassungsgarantien verletzen. Meines Erachtens ist es Aufgabe unserer Standesorganisationen aktiv zu werden, um die Grundlagen der Zusammenarbeit zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient zu schützen, wie sie bis dato durch Gesetz und Verfassung garantiert sind.