Es gibt diese Geschichte vom Vater mit den zwei wilden Buben,
welche im Tram hemmungslos und laut auf den Bänken rumturnen, ohne dass sich der Vater darum kümmert. Scheinbar teilnahmslos sitzt er da, bemerkt auch nicht den Ärger und das Unverständnis der anderen Fahrgäste. Als es schliesslich einer Frau zu bunt wird und sie den Vater an seine Erziehungspflichten erinnert, sagt dieser zum Erstaunen aller Zuhörer: „Ja, vermutlich müsste ich nun etwas tun. Wir kommen gerade vom Spital, wo meine zwei Buben ihre Mutter an den Krebs verloren haben. Bitte entschuldigen Sie.“
Betretenes Schweigen, alle sind berührt, hilflos, ohnmächtig.
Trauer kennen wir zwar alle, ihr in der Öffentlichkeit zu begegnen ist ungewohnt, macht zuerst einmal einfach sprachlos. Grundsätzlich findet Trauer eher im Verborgenen statt und in den eigenen vier Wänden. Denn Trauern braucht Geborgenheit, Schutz, Raum und Intimität.
Wie spricht man jemanden an, der einen geliebten Menschen verloren hat?
Wer selber schon dem Tod in nächster Nähe begegnet ist, durch Verlust eines Angehörigen, eines Freundes, der Mutter, eines Kindes, des Partners etc. kann schon eher reagieren. Die beste Reaktion ist meist die natürliche Regung: Je nach Nähe zum/zur Trauernden ein mitfühlender Blick, ein liebes Wort, eine Berührung oder eine Umarmung. Und vielleicht, bei gegebener Zeit, der Hinweis auf eine Selbsthilfegruppe oder einen Ort, wo man Trauern kann und sich aufgehoben fühlt.
Das Verarbeiten und Annehmen eines Todes findet individuell und ohne Zeitdruck statt. Da gibt es keine allgemein gültige Gebrauchsanweisung. Es tauchen Fragen auf, Erinnerungen schmerzen oder geben Halt, ein Leben ohne den geliebten Menschen muss erst noch erfunden, Gewohnheiten losgelassen, Neues entdeckt werden.
Bis das Leben wieder in geordneten Bahnen verläuft, können Wochen vergehen, Monate, manchmal sogar Jahre.
Für das Umfeld geht das Leben nach einem Todesfall meistens rasch über in den gewohnten Alltag. Für die direkt Betroffenen schmerzt und beeinflusst das unfassbare und endgültige Wegfallen des geliebten Menschen noch lange spürbar, hakt sich fest, kommt immer wieder und steuert das gesamte Lebensgefühl. Und obwohl der Schmerz der Trauer von niemandem als mir selber ausgehalten und verarbeitet werden kann, gilt hier: Geteiltes Leid ist halbes Leid.
Denn es tut gut, den Schmerz und die undefinierten Gefühle in Worte zu fassen, darüber zu sprechen oder auch zu schreiben, sie in einem geschützten Raum stehen zu lassen. Manchmal genügt ein Blatt Papier, manchmal eine Gruppe Betroffener, ein offenes Ohr, ein lieber Mensch.
Das Unausgesprochene lastet oft schwerer als die harte Realität selber. Undefinierte Gefühle, nicht geweinte Tränen und unterdrückter Groll, die versteckte Wut im Bauch, offene Rechnungen… all dies kann sich ohne bewusstes Auseinandersetzen mit der Trauer nur schwer auflösen. Die Balance zu finden zwischen Rückzug und Vorwärtsgehen wird zum täglichen Brot. Es braucht beides, damit das Eine dem Andern nicht im Weg steht. Und diese Balance kann nur der/die Trauernde selber finden. Ein Drängen von Angehörigen bringt nicht viel, auch wenn es für diese schwer auszuhalten ist, wenn sie zusehen müssen, wie gelitten und mit dem Leben ohne den geliebten Menschen gehadert wird.
Denn es gäbe ja noch so viel Lohnendes zu entdecken.
Zugegeben, das Leben nach dem Tod eines nahestehenden geliebten Gegenübers wird zwar anders, vorübergehend ärmer oder kälter, weniger bunt und möglicherweise auch einsamer.
Es erfordert viel Geduld, Verständnis und Selbstannahme, auch Eigenliebe, um mit all den belastenden Gefühlen und Gemütszuständen klarzukommen. Das Leben hat sich verändert, schlechter muss es jedoch dadurch nicht sein. Denn schliesslich gibt es einen hoffnungsvollen Trost: Nichts bleibt, wie es ist! Es geht alles vorüber.
Das Ausdrücken der Befindlichkeit, der achtsame Umgang mit den widersprüchlichen Gefühlen und das Finden von passenden Worten hilft beim Prozess des Trauerns. Denn was fassbar wird, kann betrachtet, verinnerlicht und schliesslich losgelassen werden. Über die Akzeptanz des Unabänderlichen kommt die Befreiung und das Weitergehen in Frieden, mit dem was ist. Trauern ist ein Prozess, der auch Schönes beinhaltet. Auf einmal sieht alles anders aus und ich habe die Chance, diesen neuen Blick zu nutzen. Begegnungen finden anders statt, neue Erkenntnisse werden gefunden, das Leben bekommt einen anderen Wert, die Tiefe in mir wird wachgeküsst.
Denn letztlich dient die Trauer unserer Entwicklung, es ist ein Prozess der Reifung.