Philosophische Betrachtung von Dr. Björn Riggenbach
Innerhalb von drei Jahren ist die Aletheia-Familie schnell gewachsen und gross geworden. Viele Menschen fühlen sich dazugehörig – und immer wieder taucht die Frage auf: Wer gehört dazu, wer nicht. Und: wer bestimmt das überhaupt.
Es ist niemand – in meinen Augen. Ich bin es nicht. Niemand, nicht im Sinne des Odysseus beim Zyklopen (Beitrag von Dr. Kyriaki Stefanidou), sondern: wer ist es dann?
Wenn jemand das beurteilen müsste, ist die weitere Frage: ist das Wesen Aletheia ein urteilendes?
Ein Urteil bestimmt immer einen Sachverhalt in Bezug auf das Sein, für die Gegenwart, in der wir leben. Wenn ein Urteil extrem und verkürzt ausgesprochen ist, lautet es “Ja” oder “Nein” in Verbindung mit dem Verb “es ist”. Dadurch wird ein Urteil gefällt. Im Gegensatz dazu steht die Beschreibung, z.B. aus der Welt der Sinne: “ich sehe einen fliegenden Vogel”. Würde ich von der Beschreibung zur Beurteilung schreiten, dann hiesse das: “Es ist ein fliegender Vogel. Aufgrund dieses Hinweises kann ich also ein Urteil bewusst zurückhalten – bewusst nicht urteilen – indem ich von meiner Wahrnehmung spreche und im Deskriptiven bleibe. Dann urteile ich nicht.
Bei Aletheia scheinen mir zwei Paare von “Gegensätzen” augenscheinlich: Gegenwart und Vergangenheit einerseits, Erinnerung und Urteil andrerseits. Ich erkläre mich:
Insofern sie sich umfassend erinnert – sogar an jenes, was vor der Geburt, was nach dem Tode war – ist sie auf die Vergangenheit ausgerichtet, nicht auf die Gegenwart. Und nur ausserhalb von Raum und Zeit, d.h. im „Jenseits“, befindet sie sich im Sein, im „Jetzt“. Aber das „Jetzt“ wird hinfällig, wenn alles sich “gleichzeitig“ und “am gleichen Ort” jenseits von Raum und Zeit befindet. Dort herrschen nicht Zeiten, nicht Räume, sondern Ewigkeit und Unendlichkeit.
Weil dort alles, alle Menschen, alle Taten, alle Gefühle, die ganze Welt – an die sich Aletheia erinnert – gemeinsam sind im Sein, gibt es dort keine Abgrenzungen, kein Urteil. Die Welt der Aletheia ist nicht jenes der Urteile, sondern der Erinnerung. Sie wird nicht beurteilen, wer zugehörig ist und wer nicht – und es ist mir die tiefe Frage, ob nicht jeder Einzelne das selber bestimmt, indem er sich ihr verbindet. Und ich wage zu glauben, dass, solange ich urteile, ich mich eher von ihr entferne als mich ihr zu nähern.
Jenseits von Raum und Zeit wirken nämlich nicht Urteile, sondern Folgen. Mein Denken, Fühlen und Handeln haben Wirkungen in der Welt, und diese sind gefolgt von Konsequenzen – von beabsichtigten oder unbeabsichtigten. Ich bin schliesslich selber dafür verantwortlich, ganz ohne mich irgendwie beurteilen lassen zu müssen. Die Folgen kommen von alleine auf mich zu. (Es könnte damit der Begriff des Schicksals verbunden werden).
Eine spezielle Situation ist jene, in der ich Mitmenschen nicht verstehe oder mich von ihnen nicht verstanden fühle, besonders dann, wenn das in mir Emotionen schürt. Der eingangs erwähnte Beitrag von Kyriaki Stefanidou spricht erhellend davon. Und in Begleitung von Aletheia (nicht nur in jener von Athene, wie Odysseus sie erlebt) kann ich mich auf den Weg begeben. Ich muss mich erinnern, dass der Mitmensch seine Gründe hat, so zu sein, so zu handeln, zu fühlen, zu denken, und dass sie eine Folge sind von Vorausgegangenem. Auch, dass er selbst dafür verantwortlich ist, wie er damit umgeht, genauso bei mir. Und wie bei mir werden wieder Folgen daraus entstehen. Ich entschuldige damit in keiner Weise sein Tun und Lassen, ich habe es ja auch nicht beurteilen müssen (Urteil – Schuld – Strafe) wenn ich mich beschränkte darauf, rein wahrnehmend, “erinnernd”, beschreibend aus mir und in mir zu bleiben. Die unmittelbaren Folgen werden ohne mein Zutun eintreten und Konsequenzen sein in einem Bereich, in dem Ursachen sich zu Wirkungen gestalten.
Anstelle des Verurteilens des anderen kann ich mich bemühen, ihn zu verstehen und mit ihm umzugehen versuchen, oder, wenn dies zu schwierig ist für mich, ihm gegenwärtig aus dem Weg zu gehen. Das kann existenziell sein, besonders bei Begegnungen mit narzisstisch Perversen, deren Unlauterkeit die Distanz überlebenswichtig macht. Ob ich mich der Begegnung, mich „erinnernd“ an mein Leben nach dem Tod, dannzumal werde entziehen können, muss hier offen bleiben. Wenn dort mein Handeln wirkt, dann wird es auch Wege geben, die mir den Umgang mit solchen Konsequenzen ermöglichen.
Was ist “Aletheia” – im Sinne von: der gehört dazu, der handelt danach, jener oder jene nicht – dieses Urteil (und ich spreche nur von mir) steht mir nicht zu, denn wenn ich mich nähern möchte der sich an alles Erinnernden, dann hat alles seinen “Raum”, seine “Zeit” und ist ein Teil von mir selbst. Im Urteilen schaffe ich Grenzen: ich grenze ein und aus und hebe einen Teilaspekt des Ganzen hervor. Wenn ich aber das Ausgegrenzte berücksichtige, mich an alles erinnernd, gelange ich zur Annahme, dass alles Folge ist von einstmals Entstandenem. Ich werde durch diese Einsicht angeleitet, auch dessen, was sich trotz meines Bemühens um eine Gesamtschau verbirgt, gerecht zu werden.