3te Station – Wut und Instinkte – Zyklopen
Nach dem letzten Aufenthalt an Land, noch mit dem Geschmack der Lotosfrüchte im Mund und noch schlaftrunken davon, kommen Odysseus und seine Kameraden auf der Insel der Zyklopen an, auf der sie einer Welt von Wut und Instinkten begegnen werden.
Zyklopen sind Poseidons Söhne und dieser ist der Gott der Meere, aber auch der Gott des Meeres der Gefühle, dieser flüssigen, in der Gischt lufterfüllten Welt, in welcher der Affekt alle Dinge und Reaktionen bestimmt. Zyklopen befinden sich immer noch im Zustand der Instinkte und funktionieren rein egozentrisch. Das trifft auch auf den Zyklopen namens Polyphem zu, den Odysseus mit seinen Gefährten hier antreffen wird.
Mit sechs seiner Getreuen macht er sich auf, die Insel zu erkunden, um Nahrungsvorräte zu finden. Dabei entdecken sie die Höhle, in welcher der Zyklop mit ausreichend Proviant eingedeckt lebt und dieser ist bald auch selber zu sehen.
Sie erschrecken von seiner Grösse und verstecken sich in einer dunklen Ecke. Nun sind sie in der Höhle gefangen, deren Eingang Polyphem mit einem riesigen Stein verschlossen hat. Als er ein Feuer macht, nimmt er sie im Dunkeln nun wahr. Sie gehen davon aus, dass er die Tradition der Gastfreundschaft wahrt und die Fremden ehrt, ihnen vielleicht freudig entgegentritt und ihnen Nahrung für die Reise mitgeben wird. Es verschlägt ihnen jedoch die Sprache, als sie merken, dass Polyphem weder Manieren und Werte kennt, noch kultiviert ist.
Stolz antwortet Odysseus auf Polyphems Frage, wer sie seien: «Wir sind ein Heer, welches in Troja zu Ruhm gelangte!» Dieser Hinweis lässt den Zyklopen vollständig kalt. Es geht ihm einzig und allein darum, seine Triebe zu befriedigen und er packt, ohne zu zögern, zwei von Odysseus’ Gefährten, um sie zu verschlingen.
Genauso verschlingen unsere Instinkte und unsere Wut das logische Denken oder unsere Sorge für die anderen oder für das Gemeinwohl.
Riesig und furchterregend ist der Zyklop, wie es auch unsere Wut sein kann. Auch hat er nur ein Auge und deshalb eine eindimensionale Sicht und Wahrnehmung der Welt. So ist es auch unserer Wut unmöglich, die Lage und Ansichten von anderen zu sehen. Der Gigant lebt allein, wie unsere Wut, die uns von den Menschen um uns herum isoliert und entfremdet.
Der Name Polyphem bedeutet “der Vielgerühmte”. Auch die Wut lässt sich nicht verstecken, sie verbreitet sich von allein, ist unkultiviert, gierig und unbarmherzig. Sie kann alles ihr im Wege stehende buchstäblich in Stücke zerreissen.
Es wird Odysseus und seinen Gefährten bewusst, dass sie klug handeln müssen, wenn sie diesem «Orkan» entkommen wollen. Sie entdecken in der Höhle einen grossen Olivenbaumstamm (der Olivenbaum ist das Symbol der Athene, der Göttin der Weisheit). Sie spitzen ihn zu und bringen ihn im Feuer zum Glühen, um damit das einzige Auge des Zyklopen auszustechen. Weise gehen sie vor, mit Vernunft und Verstand. Sie bringen den Zyklopen aber nicht um, denn die Wut und die Instinkte dürfen wir nicht ausschalten. Wir brauchen sie, denn sie können sich uns in gezähmten Zustand als Helfer anstatt als Hindernis erweisen. Ausserdem muss jemand noch den riesigen Stein vor dem Höhleneingang wegrollen, damit sie wieder hinaus ins Licht und in die Freiheit gelangen können.
Odysseus muss zuerst seinen Egoismus ausschalten, zuerst ein “Outis”, ein “Niemand” werden, um den Zyklopen zu überwältigen und wieder bewusst und vernünftig seine Identität zurückzuerlangen – wohl wissend, dass er sich jetzt nicht mehr wie eine Herde nur von den Trieben leiten lassen kann, sondern die volle Verantwortung für das Bewusstsein seines Handelns auf der Reise im flüssigen Element des Meeres seiner Gefühle trägt.
Als dann Polyphem nach der Erblindung vor Schmerzen ächzt und die anderen Zyklopen zu Hilfe ruft, antwortet Odysseus auf seine Frage, wer ihn des Augenlichtes beraubt habe, es sei der “Niemand” gewesen. Das verunmöglicht es den anderen Zyklopen, ihm zu helfen. Dies ist ebenso ein Weg für uns, unsere Affekte auszutricksen, um damit Logik, List, Vernunft und Verstand die Oberhand gewinnen zu lassen.
Odysseus und seinen überlebenden Gefährten gelingt es, aus der Höhle zu flüchten: Angebunden unter den Bäuchen der Schafe und dadurch gut versteckt, dem Erblindeten nicht ersichtlich, gelingt es ihnen, am nächsten Tag durch die geöffnete Höhle auf die Weide zu gelangen.
Doch während sich Odysseus von der Insel entfernt, wird er in einem Moment von Übermut, Stolz und Egoismus eingeholt. Er ruft dem verzweifelten Zyklopen zu, dass er, wenn die Frage käme, wer ihn denn habe erblinden lassen, zur Antwort geben solle, es sei Odysseus, der Sohn des Laertes, der Eroberer von Troja, gewesen.
Für diesen Hochmut wird Odysseus einen grossen Preis bezahlen müssen, da sich ihm von diesem Moment an Poseidon entgegenstellt und ihm die Rückreise in die Heimat, nach Ithaka, äusserst schwierig macht, aber zugleich verursacht, dass er seine Seele und seinen Geist immer weiterentwickelt.
Quellen:
- friktories. Anastasia Stamatopoulou
- Dimitra Liatsa
Übersetzung: Anastasia Tzilinis